Existenzielle Verzweiflung von Sterbenden im Palliativbereich

Angelika Feichtner, MSc (Palliative Care), Freiberufliche Dozentin im Bereich von Hospizarbeit und Palliative Care, Aufbau der mobilen Hospizbetreuung in Innsbruck, über viele Jahre Pflegedienstleiterin der Tiroler Hospizgemeinschaft und des Sozialen Kompetenzzentrums in Rum

Schon Mitte der 70er Jahre verspürte Angelika Feichtner, damals noch Auszubildende zum Krankenpflege-Diplom, ein Unbehagen bezüglich des allgemeinen Umgangs mit sterbenden PatientInnen in der Medizin und Pflege. Damals galt noch der Begriff „austherapiert“. Vielfach schien die Medizin für sterbende PatientInnen nicht mehr zuständig zu sein, und die Betreuung dieser Menschen lag vor allem in der Verantwortung der Pflege. Seit dem Jahr 1989 entwickelte sich auch in Österreich eine Hospizbewegung, und im ganzen Land entstanden mobile Hospizteams, stationäre Hospize und Palliativstationen.

Heute ist Frau Feichtner freiberufliche Dozentin im Bereich von Hospizarbeit und Palliative Care und kann als ausgebildete Krankenpflegerin eine langjährige Berufspraxis in den Bereichen Allgemeinchirurgie, Dialyse, Intensiv- und Palliativpflege aufweisen. Ein besonders relevantes Thema in ihrem Beruf stellt dabei die existentielle Verzweiflung der sterbenden PatientInnen dar (s. Feichtner, 2016). Darunter versteht Frau Feichtner ein schwer definierbares und multidimensionales Leiden, was sich in starken negativen Gefühlen wie Hoffnungslosigkeit, tiefer Resignation und Angst ausdrücken kann. Sie ist ein integraler Bestandteil des Sterbens, die Krankheit zum Tode (Kierkegaard, 1969), und stellt keine Ausnahme dar. Gegen Lebensende werden den Menschen die existentiellen Fragen ganz besonders bewusst, und es entsteht oft eine dynamische Schaukel zwischen wechselnder Hoffnung und Verzweiflung.

Diese Dynamik ist es, worin sich verschiedene Menschen unterscheiden. Bei den meisten verläuft sie wie ein fließender Prozess. Bei wenigen erscheint es wie ein Beharren in der Verzweiflung. Ein möglicher Grund dafür, so vermutet Frau Feichtner, kann die Schwierigkeit sein, Sinn im Leiden zu erkennen und es annehmen zu können. Wenn Leid als etwas grundsätzlich Sinnloses betrachtet wird, kann dies zu anhaltender tiefer existenzieller Verzweiflung führen.

Existenzielle Verzweiflung kann sich auch in schwer behandelbaren körperlichen Symptomen, wie therapierefraktären Schmerzen, manifestieren. Während Medizin und Pflege heute über vielfältige Strategien zur Linderung von körperlichen Beschwerden verfügen, fühlen sich die medizinischen und pflegerischen Teams existenzieller Verzweiflung gegenüber häufig hilflos.

Frau Feichtner äußert Bedenken über die zunehmende Tendenz, existenzieller Verzweiflung mit der Sedierung der PatientInnen zu begegnen. Der Grund für diese Entwicklung mag darin liegen, dass professionell Betreuende aus Medizin und Pflege in ihren Ausbildungen zwar sehr gut auf die Linderung körperlicher Symptome, aber kaum auf die Begegnung mit existenziell verzweifelten PatientInnen vorbereitet wurden. Das führt dazu, dass sich viele Teams angesichts des Leidens durch existentielle Verzweiflung hilflos fühlen. Auch der Appell der Angehörigen der PatientInnen, eine sofort wirksam erscheinende Behandlung anzubieten, kann Druck auf das betreuende Personal bedeuten.

Das Personal sieht oftmals keine alternativen Behandlungsformen zur Sedierung, die die Verzweiflung jedoch quasi nur vorübergehend überdecken kann. Es stellt sich die Frage, ob nicht stattdessen ein Beistehen bei existentiellen Fragen und Nöten einen angemessenen Umgang mit existentieller Verzweiflung für die PatientInnen ermöglicht. Dafür ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was die Menschen am Lebensende wirklich beschäftigt, und was sie als bedeutsam erleben.

Was Sterbende in der existentiellen Verzweiflung besonders beschäftigt, sind vor allem zwei Dinge. Auf der einen Seite das Gefühl von Versäumtem, fehlender Kongruenz im Leben, Nicht-Gelebtem, und auch Trauer über ungenutzte Möglichkeiten (Fuchs, 2012). Beispiele dafür sind etwa das Gefühl, Phasen im Leben nicht achtsam genug gelebt zu haben oder sich mit einem Bekannten oder Freund nach einem Streit nicht ausgesöhnt zu haben (Fuchs, 2012). Aber auch Sorgen um die zurück bleibenden Angehörigen, z. B. von Vätern und Müttern, die unversorgte Kinder zurück lassen müssen, können Sterbende bis zu ihrem letzten Tag begleiten.

In der Palliativpflege ergeben sich Gespräche über diese Nöte und auch über den Lebenssinn oft während der Körperpflege. Ohne direkten Blickkontakt und durch das unverbindliche Auseinandersetzen ergibt sich hier oftmals eine besondere inhaltliche Qualität. In diesen Gesprächen werden die Familie, Spiritualität und Religiosität als Sinnquellen erkennbar. Alte und hochaltrige Menschen neigen dazu, Leistung als sinnstiftend zu betrachten – was eine tiefe Sinnkrise zur Folge haben kann, wenn sie den Eindruck haben, nicht mehr genügend „leisten“ zu können.

Manche der sterbenden Menschen äußern letzte Wünsche, wie vielleicht noch einmal ans Meer zu fahren, bestimmte Menschen zu sehen oder sogar nochmal zu heiraten. Die meisten Wünsche sind allerdings vermeintlich kleinerer Natur, z. B. einen Spaziergang durch den Garten zu genießen oder eine Nacht gut durchschlafen zu können. Im Bewusstsein der begrenzten Zeit werden scheinbar kleine Dinge entdeckt, deren Bedeutung man vielleicht eine lange Zeit im Leben ignoriert oder nicht wirklich beachtet hat. Für die Erfüllung solcher letzter Wünsche können die Angehörigen der PatientInnen einen wichtigen Beitrag leisten und meist wird es auch als entlastend erlebt, etwas zum Wohlbefinden des Sterbenden beitragen zu können.

Das Interview führte Markus Georgi

Quellen:
Feichtner, A. (2016). Existenzielle Verzweiflung am Lebensende. Unveröffentlichtes Manuskript.
Fuchs, T. (2012). Das ungelebte Leben. In Anderheiden, M., & Eckart, W. U. (Hrsg.), Handbuch Sterben und Menschenwürde (S. 495-510). Berlin: De Gruyter.
Kierkegaard, S. (1969). Die Krankheit zum Tode. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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