Christoph A. Kokkinos: „Ich ziehe das Leben vor, erkenne den Tod aber als unausweichlich an“

„Das schauerlichste Übel also, der Tod, geht uns nichts an; denn solange wir existieren, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr.“ (Epikur, zitiert nach Nickel, 2005, S. 117)

Der Tod umgibt uns ständig. Täglich hört und liest man von Terrorattacken, Krieg, Mord, Unfällen, Totschlag, Selbstmord oder anderen dramatischen Ursachen für das Ableben fremder Menschen. Trotzdem reicht diese ständige, allenfalls oberflächliche Konfrontation mit dem Tod nicht dazu aus, mir die eigene unabwendbare Sterblichkeit dauerhaft in mein Bewusstsein zu rufen. Beim Vergewissern eigener biografischer Fragmente, bei Handlungsausübung in der Gegenwart und bei Planungen für die mittel- und langfristige Zukunft schwingen Gedanken an meine eigene Sterblichkeit zumeist garnicht erst mit. Wie Nietzsche (1882) schon sagte: „Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! Ich möchte gern Etwas dazu tun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal denkenswerter zu machen.“ Ich verdränge jene Gedanken an den Tod nicht. Sie haben bloß keinen außerordentlichen Stellenwert für mein Selbstwert- oder gar mein Persönlichkeitskonzept. Ich erachte die eigene Sterblichkeit demnach weder als fundamentale Triebkraft, noch empfinde ich ihre Unausweichlichkeit als lähmend. Darüber hinaus schreibe ich dem Tod keinerlei sinngebende Funktion zu. Sinn finde ich vielmehr im Leben selbst. Sinn finde ich in meinen Freuden, Beschäftigungen, Zerwürfnissen und Weggefährten. Sinn finde ich in der Absurdität unseres Daseins und meiner Neugierde dem Leben gegenüber.

Der Tod selbst stellt ausschließlich eine besänftigende Instanz dar, die einen eines Tages von den Sorgen des Lebens loslöst und im Zuge dessen Seelenruhe verschafft. Die Gewisstheit auf ein ungewisses Ende strahlt auf mich daher eine beruhigende Wärme aus. Ist die Möglichkeit auf die sinnerfüllende Kraft, welche ich dem Leben zuschreibe, allerdings durch den Tod eines Weggefährten oder durch geistige oder physische Einschränkungen plötzlich nicht mehr gegeben, so messe ich einem menschlichen Wesen anhand meiner Ansichten gleichwohl kein Recht auf Suizid bei. Anstatt in diesen Fällen den Tod als absoluten und letzten Sinn zu ergreifen, sollte man dazu angeraten sein, für sich neuen Sinn im Leben zu stiften. Ich finde also meinen Sinn im Leben und erkenne trotzdem den Tod an, obschon er im ewigen Zwist mit der Unterblichkeit und somit der fortlaufenden Sinngebung steht. Ich ziehe das Leben vor, erkenne den Tod aber als unausweichlich an.

Demnach schreibe ich mich, unter Berücksichtigung des Drei-Komponenten-Modells von Wong, Reker und Gesser (1994), dem Konzept der Neutralen Akzeptanz (neutral acceptance) zu. Ich fürchte den Tod nicht, akzeptiere jedoch die Endlichkeit des Lebens und versuche, die mir zur Verfügung gestellte Zeitspanne mit möglichst viel Sinn zu erfüllen. Aus meinen vorherigen Ausführungen geht allerdings auch eine leichte Tendenz zur Vermeidungsorientierten Akzeptanz (escape acceptance) hervor. Diese besagt, dass der Tod eine willkommene Alternative zum Leben darstellt, insofern Schmerz und Leid im Leben überhand nehmen. Diese Einstellung kann ich, wie bereits eläutert, unter Ausschluss des Suizides teilen.

Teilweise entgegen meiner Grundeinstellung gegenüber dem Tod würde ich trotzdem Yaloms (2010) Ansichten zum Tod in die psychologische Praxis einfließen lassen. Er erachtet ihn als existenziellen Kernkonflikt, welcher die Spannung zwischen dem Bewusstsein über die Unabwendbarkeit des Todes und dem Wunsch nach fortlaufender Existenz darstellt. Damit misst er ihm einen größeren Stellenwert bei, als ich es tun würde. Unterdessen erkennt er für sich die erdrückende Sinnlosigkeit, die unser Ableben stiftet. Wenn wir sterben, dann sind wir letztlich allein in einem gleichgültigen Universum. Gibt es keinen vorbestimmten Plan, kein Schicksal, so muss sich jeder seinen eigenen Sinn im Leben konstruieren. Das Dilemma, welches der Sinnlosigkeit zugrunde liegt, besteht also darin, dass wir sinnsuchende Menschen sind, die in ein sinnlosen Universum hineingeboren werden. Diese Darstellung Yaloms ziehe ich heran, um meine Tendenz zur Vermeidungsorientierten Akzeptanz zu erklären. Yaloms Ausführung muss berücksichtigt werden, um meinen scheinbaren Widerspruch mit Nietzsche und Epikur aufzulösen. Erzeuge ich für mich also temporären Sinn, ist er auch zugleich bloß eine von mir geschaffene Illusion und eben deshalb vom Gedanken an den Tod losgelöst, so bröckelt die Fassade dieser Illusion über die Lebensjahre hinweg – beispielsweise mit der Ansammlung von Schmerz, Leid und Verlusten. Also dient der Tod dazu, eine komplette Desillusionierung abzuwenden, welche sich im ewigen Leben zwingend finden würde. Für eine Patient-Therapeut Beziehung bedeutet dies, dass auch der Therapeut von jenem universellen Schmerz der Patienten nicht freigesprochen ist, obschon er in seiner Persönlichkeit gefestigter sein mag. Patient und Therapeut sollen demnach als Reise- und Leidensgefährten (Yalom, 2010) erachtet werden, da sich beide mit den gleichen existentiellen Ängsten konfrontiert sehen. Um sich einer Reihe interpersonaler und innerpsychischer Teilbereiche annähern zu können, bietet es sich an, die therapeutische Exploration einer existentiellen Angst heranzuziehen.

Eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Tod würde ich demnach also nicht grundsätzlich ausschließen. Schließlich, so fassen Martin et al. (2004) für Heidegger und Kierkegaard zusammen, ist die Anerkennung des Todes der triftigste Grund dafür, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Darüber generieren wir folglich die Einsicht und die Dringlichkeit, aktive Entscheidungen auf der Basis von leidenschaftlich gewählten, persönlichen Werten zu treffen. Darüber hinaus lehrt uns die Anerkennung des Todes zweckwidrige, internalisierte kulturelle Werte nicht unüberlegt zu übernehmen. Damit kommt sie der Funktion nach, nicht Triebkraft selbst zu sein, sondern auf die Triebkraft des Lebens aufmerksam zu machen.

 

Literaturverzeichnis

Epikur, & Nickel, R. (2005). Wege zum Glück. Düsseldorf: Artemis & Winckler.

Martin, L. L., Campbell, W. K., Henry, C. D. (2004). The Roar of Awakening: Mortality Acknowledgment as a Call to Authentic Living. In Greenberg, J. (Ed.), Koole, S. L. (Ed.), Pyszczynski, T. (Ed.), Handbook of Experimental Existential Psychology (pp. 431-448). New York, NY, US: Guilford Press.

Nietzsche, F., & Pütz, P. (1987). Die fröhliche Wissenschaft. München: Goldmann.

Wong, P. T., Reker, G. T., Gesser, G. (1994). Death Attitude Profile-Revised: A Multidimensional Measure of Attitudes Toward Death. In R. A. Neimeyer (Ed.), Death anxiety handbook: research, instrumentation, and application (S. 121-148). Washington, DC: Taylor & Francis.

Yalom, I. D. (2010). Einführung. In I. D. Yalom (Ed.), Existentielle Psychotherapie (S. 11-41). Bergisch Gladbach: EHP.

Yalom, I. D. (2010). Der Panama-Hut oder was einen guten Therapeuten ausmacht. München: Random House Verlag.

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