Ich sehe deine Tränen: Lebendigkeit in der Trauer

Canacakis, J. (2006). Ich sehe deine Tränen. Lebendigkeit in der Trauer. Stuttgart: Kreuz Verlag.

Was ist Trauer? Wie trauern wir in der modernen Gesellschaft? Wie können wir sinnvoll trauern?

Diesen und vielen anderen Fragen rund um das Thema Trauer widmet sich das Buch von Jorgos Canacakis, der sich als Diplompsychologe und Psychotherapeut vor allem mit Trauerforschung beschäftigt.

Trauer ist eine Verlustreaktion, die kompliziert und schwer zu verstehen ist. Sie hat unendlich viele Ausdrucksmöglichkeiten. Trauer ist nichts Statisches, sondern ein Prozess. Sie ist eine Verwandlungskünstlerin“

Für Jorgos Canacakis ist Trauer ein Geschenk, eine angeborene Ausstattung, die durch die Vorbildwirkung anderer entwickelt werden muss. Sie ist individuell und vielfältig, denn sie tritt selten allein, sondern fast immer vermischt mit anderen Gefühlen auf. Trauer ist keine Krankheit, sie kann jedoch die Gesundheit stark beeinträchtigen, wenn sie unausgedrückt bleibt. Sie ist einerseits ein höchst individuelles Ereignis, aber auch gleichzeitig ein höchst soziales – Trauer will gesehen, gehört, ernst genommen, verstanden, akzeptiert, aber auch mitfühlend bestätigt werden.

Es fehlt die Großfamilie, die Dorfgemeinschaft, die verständnisvolle Nachbarschaft als „Auffangbecken für berechtigte Tränen“ – wir haben das Trauern verlernt.

Der Tod als Lebenstatsache ist ein Tabu. Wir bekämpfen ihn mit aller Macht. Die Zusammengehörigkeit von Leben und Sterben, von Geburt und Tod als natürliche Einheit wird dadurch missachtet und in der Folge werden die natürlichen Trauerreaktionen verhindert. Rationalität und Leistungsstreben in der modernen Gesellschaft fordern die Zurückhaltung von Gefühlsäußerungen und ein Verbergen von „Schwäche“. Desweiteren fehlen geeignete Rituale, die den Trauerverlauf auffangen, sichern und im Ausdruck unterstützen.

Die Rituale, die unsere Gesellschaft kennt, sind sinnentleert, manipulierend, verpflichtend und starr und deshalb allesamt völlig ungeeignet.

Rituale sind durch Tradition und Brauchtum festgelegte Formen, die das Handeln für Einzelne und Gruppen strukturieren. Sie regeln und ordnen die Begegnung mit sich selbst, mit anderen und mit dem Numinosen, also Sterben, Tod, Trauer. Sinnvolle Trauerrituale führen zu einer Entlastung der Hinterbliebenen, da sie darin die Unterstützung, Anteilnahme und das Verständnis ihrer Mitmenschen erfahren. Sie sind sozusagen ein Wegweiser durch die Trauer und vermitteln ein Gefühl der Sicherheit.

Wie können uns geeignete Trauerrituale helfen?

  • Wir können unserem Trauerschmerz Ausdruck verleihen.
  • Desweiteren schützen sie uns:
    • vor dem Sich-Verlieren in der Trauer
    • vor Aggression (Auto- oder Fremdaggression)
    • Anwesende helfen uns, im Hier und Jetzt zu verbleiben
  • Es herrscht eine klare Rollenverteilung – das reduziert Unsicherheit.
  • Der Trauerablauf wird durch das Ritual gegliedert.
  • Dadurch werden auch einzelne Phasen zeitlich begrenzt.
  • Im Ritual setzen wir uns mit der Beziehung zum Toten auseinander und es entstehen neue oder stärkere Bindungen zu anderen Menschen.
  • Der Zusammenhalt in der Gemeinschaft wird zudem gestärkt.

 

FAZIT

Schöpferische Möglichkeiten, die eigene Trauer auszudrücken, gibt es überall, in uns selbst und um uns herum. Wir brauchen nur einen geeigneten Raum und die „Erlaubnis“ der Gesellschaft, unseren Gefühlen freien Lauf lassen zu können, um so sinnvoll und heilsam zu trauern.

 

Von Melanie Oberleitner

 

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