Schnell, T. (2012) Spirituality with and without Religion—Differential Relationships with Personality. Archive for the Psychology of Religion 34 (2012) 33-61 –> free pdf
Glauben Sie an Gott? Oder lieber an eine unbestimmte übernatürliche Macht? Würden Sie sich also eher als religiös oder als spirituell bezeichnen? Welche Aussagen lassen sich aufgrund dessen über Ihre Persönlichkeit treffen? Sind religiösen Menschen andere Dinge wichtig als Spirituellen? Der hier vorgestellte Artikel versucht Erleuchtung ins Dunkel dieser Fragen zu bringen.
Sie haben sich für spirituell entschieden, weil Ihnen das vertrauter scheint, um Ihre Einstellung zu… tja, zu WAS eigentlich… zu beschreiben? Oder gefällt Ihnen der Begriff einfach besser, weil man bei religiös immer gleich an Kirche denken muss? Von der scheinen sich derzeit immer mehr Menschen abgrenzen zu wollen – nicht nur begrifflich. Vielleicht gehören sie ja auch zu der sich ausbreitenden Spezies, die den Glaubensinstitutionen den Rücken zukehrt und versucht sich im Dickicht des spirituellen Marktes allein bis zur Erleuchtung durchzuschlagen? „Erfahren können statt glauben müssen“, scheint nicht nur Motto sondern auch der Grund zu sein, weshalb sich diese Menschen von der Kirche und ihren Ritualen wie Gottesdiensten und Gebeten abwenden – hin zu Meditation, Yoga oder fernöstlicher Mystik.
Spirituell oder religiös? Möglicherweise fragen Sie sich: Wo ist denn da der Unterschied? Mehrere Studien konnten belegen, dass sich die Mehrheit der Befragten sowieso als beides sieht – spirituell und religiös. Obwohl fast alle religiösen Menschen Spiritualität als festen Bestandteil ihres Glaubens ansehen, bezeichnen die Vertreter der oben genannten Spezies ihren Glauben ja gerade deshalb als Spiritualität, weil für sie Religion eben nicht dazugehört. Interessant ist auch, dass beide Begriffe sich in ihrer Bedeutung überschneiden. Die Zuwendung hin zu einer Wirklichkeit jenseits der materiellen Welt. Hier soll es aber nicht nur um Begriffe gehen, sondern um Menschen – um religiöse und um spirituelle. Aber wodurch unterscheiden sich die beiden Gruppen? Um das herauszufinden, wurden in der vorliegenden Untersuchung die 135 teilnehmenden Studenten gebeten, einzuschätzen wie religiös bzw. spirituell sie sind, wobei Spiritualität hier als der Glaube an Übernatürliches definiert war. Zusätzlich wurden mittels Fragebogen verschiedene Arten von Persönlichkeitsmerkmalen erhoben.
Ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung von Persönlichkeitsmerkmalen ist deren Stabilität. Man unterscheidet deshalb dispositionelle Eigenschaften und charakteristische Adaptionen:
Dispositionelle Persönlichkeitsmerkmale beziehen sich auf grundlegende individuelle Unterschiede im Denken, Erleben und Verhalten (siehe Box: BIG 5).
BIG 5 Der Begriff steht für ein Persönlichkeitsmodell, dass fünf grundlegende Dimensionen relativ stabiler Persönlichkeitsmerkmale unterscheidet:
- Neurotizismus (Häufigkeit negativer Emotionen, emotionale Stabilität)
- Extraversion (Geselligkeit, Aktivität, Sensationslust, Begeisterungsfähigkeit, Selbstbehauptung)
- Offenheit (für Erfahrungen, Neigung zu unabhängigem, unkonventionellem phantasievolles Erleben und Verhalten)
- Verträglichkeit (Altruismus, Vertrauen, Kooperation)
- Gewissenhaftigkeit (Selbstkontrolle und Organisation, Planungsfähigkeit, Zuverlässigkeit)
Sie treten unabhängig von der jeweiligen Situation auf und bleiben meist über lange Zeit stabil. Persönlichkeitsdispositionen beeinflussen unser Verhalten grundlegend und unbewusst – mitunter auch gegen unseren Willen: Jeder, der sich schon einmal fest vorgenommen hat weniger nervös zu sein, z.B. bei einer Verabredung oder einem Vorstellungsgespräch, kann dies bestätigen.
Im Unterschied dazu sind charakteristische Adaptionen typische Verhaltenstendenzen, die abhänig von der Situation und der sozialen Rolle einer Person auftreten. Sie sind weniger stabil als Verhaltensdispositionen und werden von unseren Werten, Zielen und Absichten beeinflusst. Charakteristische Adaptionen sind gewissermaßen die Übersetzung von Zielen und Idealen in konkretes Verhalten. Die hier erhobenen Lebensbedeutungen sind solche „in Aktion getretene Werte“ und potenzielle Quellen um Sinn im Leben zu erfahren.
Im ersten Schritt der Untersuchung wurde überprüft welche Persönlichkeitsmerkmale tendenziell eher mit Spiritualität bzw. eher mit Religiosität einhergehen. Dabei fällt auf, dass sich sowohl spirituelle wie auch religiöse Personen selbst als überdurchschnittlich umgänglich, verträglich, vertrauenswürdig und emotional einschätzen. Religiöse Menschen erscheinen jedoch nachgiebiger, also eher bereit sich Anderen unterzuordnen, und gewissenhafter. Große Unterschiede zeigen sich auch in puncto Offenheit. Spirituelle haben tendenziell nicht nur eine lebhaftere Phantasie als Religiöse, sie zeigen sich auch aufgeschlossener gegenüber neuen, ungewöhnlichen Erfahrungen und Ideen.
Sowohl spirituelle als auch religiöse Menschen zeigen ein hohes Maß an Selbsttranszendenz, sowohl vertikal (Verbundenheit mit einer höheren Macht) als auch horizontal (Bereitschaft zu Verantwortung und Engagement für Gesellschaft, Natur und persönliches Wachstum). Noch mehr als den Religiösen scheint spirituellen Personen Selbsterkenntnis – also die bewusste Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Schwächen – ganz besonders wichtig zu sein. Sie zeichnen sich zudem durch eine hohe Kreativität aus. Harmonie und Achtsamkeit – mit sich selbst und im Sinne eines bewussten Umgangs miteinander – scheint beiden Orientierungen überdurchschnittlich wichtig, ist aber bei Spirituellen stärker ausgeprägt.
Im nächsten Schritt wurde untersucht, welche der beiden Arten an Persönlichkeitsmerkmalen sich stärker auf den Glauben einer Person auswirkt. Dabei konnte festgestellt werden, dass persönliche Überzeugungen und Werte (= charakteristische Anpassungen) mehr Einfluss auf die Spiritualität bzw. Religiosität einer Person haben, als typische Verhaltensdispositionen. Das bedeutet, dass der Glaube eines Menschen stärker von seinen individuellen Erfahrungen und den daraus entstandenen Zielen und Werten geprägt ist, als von seinen unbewussten und vererbten Verhaltensanteilen.
Mit dem Ziel zwei verschiedene Arten der Spiritualität miteinander zu vergleichen, wurden die Untersuchungsteilnehmer im letzten Schritt in zwei Gruppen eingeteilt:
a) Personen, die angaben sowohl religiös als auch spirituell zu sein
b) Personen, die angaben spirituell aber nicht religiös zu sein
Entgegen der Erwartungen haben „nur“ spirituelle Personen keine offenere Einstellung als religiös-spirituelle Menschen. Verglichen mit dem Durchschnitt ist Offenheit in beiden Gruppen überdurchschnittlich stark ausgeprägt. Das bedeutet, dass Spiritualität – egal ob mit oder ohne religiöse Orientierung – verbunden zu sein scheint mit dem Bedürfnis Neues zu Erleben und seinen Gedanken und seiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Die Daten weisen darauf hin, dass Personen, die spirituell aber nicht religiös sind eher zu neurotischem Verhalten neigen. Das bedeutet, dass sie häufiger unter Ängsten und Depressionen leiden und Anderen mitunter zurückhaltend oder gar feindselig begegnen. Spirituell-nicht-religiöse Personen zeigten sich im Vergleich zu spirituell-religiösen und dem Durchschnitt auch als weniger umgänglich.
Bisher nahm man an, dass „nur“ spirituelle Menschen im Gegensatz zu spirituell-religiösen keinen Sinn und Halt in der Religion finden konnten und deshalb noch auf der Suche nach Orientierung sind. Diese Vermutung wurde zwar bisher durch die ausgeprägte Offenheit spiritueller Personen unterstützt, jedoch zeigen die Ergebnisse dieser Studie, dass auch religiös-spirituelle Menschen offen sind – ohne neurotische Tendenzen zu zeigen. Damit ist also nicht erklärt, weshalb sich derart aufgeschlossene und erlebnisorientierte Personen häufig unsicher fühlen, vor Zurückweisung fürchten oder gar unter Ängsten und Depressionen leiden.
Möglicherweise besteht hier eine Verbindung zu dem eingangs beschriebenen Chaos auf dem spirituellen Markt. Vielleicht sind besonders reizoffene Menschen von diesem Überangebot überfordert. Viele dort angepriesene Lebensphilosophien stammen aus anderen Religionen und Kulturen. Aus ihrem eigentlichen Kontext gerissen und nicht richtig oder nur oberflächlich angewandt, verfehlen sie möglicherweise ihre Wirkung. Deshalb gilt es auch auf dem spirituellen Markt am Bedarf orientiert und bewusst zu „shoppen“ und die Qualität von Angebot und Anbieter zu überprüfen. Schnäppchen werden sich hier keine machen lassen, denn Spiritualität ist ebenso wie Religiosität geistige Orientierung und Lebenspraxis, die individuell ausgelebt – also ohne feste Glaubensinstitution und -gemeinschaft, ein besonderes Maß an Geduld, Übung und Regelmäßigkeit erfordert.
Zusammengefasst von Christoph Hörmann