Terneß, M. (2007). Warum bin ich nicht weg und jemand anderes da?: eine qualitative Studie über Lebenssinn und Lebensziele suchtkranker Jugendlicher in der Rehabilitation. Saarbrücken: VDM-Verlag.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Themen Lebenssinn und Lebensziele bei suchtkranken Jugendlichen. Dabei wurden Persönliche Gespräche (nach der von Inghard Langer entwickelten Methode) mit 8 Jugendlichen geführt, die sich zu der Zeit im COME IN befanden, einer rehabilitativen Einrichtung, die die Behandlung und Resozialisierung dieser Jugendlichen zum Ziel hat. Es wird ein Überblick gegeben über Theorie und Forschung zum Thema Lebenssinn in der Psychologie. Die Methode des Persönlichen Gespräches wird vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine humanistisch orientierte Art und Weise Gespräche zu Forschungszwecken zu führen, die auf dem von Rogers entwickelten klientenzentrierten Ansatz basiert, der sich wiederum durch eine empathisch, unbedingt wertschätzende und authentische Grundhaltung gegenüber dem Klienten auszeichnet. Es geht dabei hauptsächlich um die subjektive Welt der Klienten und weniger um verallgemeinerbare Empirie zur Lebenssinn-Problematik. Das Persönliche Gespräch wird als Methode wissenschaftstheoretisch und metaphysisch eingebettet. Aus dieser heraus lässt sich die besondere Betonung und Einbringung des persönlichen Bezugspunktes des Autors in die Gespräche verstehen. Die verdichteten Gespräche selbst werden als Hauptteil dieser Studie betrachtet. Der Leser sei aufgefordert selbst in die Welt der Klienten einzutauchen und sie mit seiner eigenen Welt abzugleichen. Wenn diese Arbeit beim Leser zu einer Anregung, einer inneren und vielleicht auch äußeren Auseinandersetzung mit den von den Klienten gemachten Aussagen zu entsprechender Thematik geführt hat, kann sie als erfolgreich gelten.
Für die am wissenschaftlichen Diskurs interessierten Leser kann der Ergebnisteil zu einigen interessanten Erkenntnissen führen. Hier zeigt sich, dass wir es mit einem sehr komplexen und heterogenen Feld zu tun haben, welches das ganze Leben der Klienten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft betrifft. Viele Aussagen und Hypothesen lassen sich ableiten. Nach Verdichtung der Aussagen zu Lebenssinn und Lebenszielen ergaben sich folgende fünf Bereiche, die allerdings lediglich als Heuristik zu verstehen sind, da Sinn-Inhalte und deren Bedeutungen aufgrund ihrer multiplen Verstrickungen nicht immer voneinander zu trennen waren:
Soziale Beziehungen, Arbeit, Angenehme Aktivitäten, lebensgeschichtlich bedingte suchtspezifische Sinn-Orientierungen, Ziel- und Erfolgsorientierung.
Es zeigte sich, dass Lebenssinn nur wirklich im lebensgeschichtlichen Kontext der Klienten zu verstehen ist, was am besten am Bereich „lebensgeschichtlich bedingte suchtspezifische Sinn-Orientierungen“ zu sehen ist, bei dem deutlich wird, dass die Klienten sich sowohl in ihren Lebenszielen, als auch in ihrem jetzigen Erleben auf das in ihrer Vergangenheit erlebte „Leid“ im Sinne einer Kontrastierung beziehen. Dieses scheint sich bei einigen auch in einem bewussteren Erleben auszudrücken, welches auf einen möglichen Entwicklungsgewinn über das Wachsen an kritischen Lebensereignissen hindeutet (s.a. Kapitel „Beziehung zu Eltern und anderen wichtigen Bezugspersonen“ und „Sucht und Vergangenheit“). Allerdings könnten auch in den anderen Bereichen suchtspezifische Aspekte vermutet werden. So scheint bspw. die Gewinnung von Selbstwert als Hintergrundmotivation an verschiedenen Stellen durchzuschimmern. Der Bereich Glauben, der interessanter Weise von keinem Klienten selbstständig als sinnkonstituierend genannt wird, zeigt, dass es trotz einer vermeintlichen „Nicht-Religiösität“ im konfessionellen Sinne, vielfältige Vorstellungen vom „Funktionieren“ der Welt sowie von Leben und Tod geben kann. Allerdings hat das bei den meisten Klienten keine „bewussten“ Implikationen für ihr Handeln in ihrem alltäglichen Leben.
Erwähnenswert ist innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses auch die Tatsache, dass Selbsttranszendenz bei vielen Jugendlichen, insbesondere als Motivation im Bereich angenehme Aktivitäten, im Lebenssinn-Kontext auftaucht.
Die Jugendlichen sind insgesamt durchaus imstande relativ elaboriert über Lebenssinn und Lebensziele zu sprechen, was auf eine grundsätzliche Anwesenheit von Sinnerleben hindeutet, wobei hier der Vergleich mit suchtkranken Jugendlichen, die noch nicht „clean“ sind, zusätzliche Erkenntnisse bringen könnte.
Mich persönlich beeindruckte vor allem das kreative Potential der Jugendlichen, welches in diesem Rahmen natürlich nicht objektivierbar war. Trotzdem wäre auch hier ein Vergleich mit nicht süchtigen Jugendlichen interessant. Verallgemeinerbare Aussagen, zu einem möglichen besonderen Potential dieser Jugendlichen könnten natürlich große Relevanz für entsprechende rehabilitative Maßnahmen haben. Das COME IN scheint dieses Potential in ihrem therapeutischen Angebot bereits zu nutzen.
Die Arbeit des COME IN muss aufgrund der hier gewonnenen Klientenaussagen insgesamt als sehr gut bewertet werden. Es ist anzunehmen, dass ein großer Teil der sinnstiftenden Inhalte der Klienten durch die Therapie vermittelt werden konnte. Bezüglich des Themas Lebenssinn könnte eine etwas stärkere Auseinandersetzung mit lebensphilosophischen- und Glaubensfragen von Vorteil sein, insofern sich ein konsistentes und kohärentes Sinnsystem, welches sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinandersetzt, als hilfreich erweisen kann. Es vermag vermutlich eine positive Zukunftsorientierung zu unterstützen. Empirisch konnten diesbezüglich in anderen Studien immer wieder Zusammenhänge zu psychischer Gesundheit und Wohlbefinden aufgezeigt werden.
Abschließend soll bemerkt werden, dass sich das Persönliche Gespräch als wertvolle Methode, insbesondere in dem hier untersuchten psychologischen Forschungsbereich, erwiesen hat. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es sich weiterhin außerhalb der psychologischen „Mainstream“-Methodik bewegen. Wem als fachkundiger Leser diese Methode, wie z.B. in dieser Arbeit, über den Weg läuft, der fühle sich also ermutigt, in seiner psychologisch empirischen Tätigkeit das Persönliche Gespräch ebenfalls anzuwenden. Insbesondere wenn es sich um ein Thema handelt, das für den Forscher selber existentiellen Charakter hat, verspricht das Persönliche Gespräch, Menschen in einer ganz besonderen ganzheitlichen Tiefe mit dem Forscher und dem Leser in Kontakt zu bringen. Diese Form der Wissenschaft kann über einen selbstdarstellerischen Selbstzweck hinaus direkt klinisch psychologische Relevanz erhalten, indem sie den Rezipienten zu einem Verstehen anregt, das nicht in einer abstrakten theoretischen Verhärtung bestimmter Konzepte besteht, sondern im besten Fall zu mehr Menschlichkeit führt, die dann wieder etwaigen Klienten und Patienten zu Gute kommen kann.
Informationen über den Autor
Michael Terneß machte sein Diplom in Psychologie an der Universität Hamburg. Im Laufe seines Studiums konnte er viel Erfahrung in den Bereichen Forschung und Klinik sammeln. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Zen-Praxis, vertritt er einen idiographisch-humanistischen Forschungsansatz, der Forscher und Leser wieder mit den untersuchten Menschen in Kontakt bringen möchte.
Die Arbeit wurde an der Universität Hamburg erstellt und betreut von Prof. Gerhard Vagt und Dipl. Psych. Peter Buttgereit.
Sie ist erhältlich über verschiedene Universitätsbibliotheken (www.gvb.de), bei www.grin.com sowie verschiedenen Internet-Buchhandlungen (z.B. www.amazon.de).